Als wir in der ersten Hälfte des Jahres 2021 aus Heilbronner Privatbesitz ein Aquarell mit ein paar Gebäuden zwischen Bäumen erwarben, wussten wir über das Bild und seinen Urheber anfangs nur das, was rückseitig auf einem handschriftlichen Aufkleber stand: „Bei Neckarmühlbach. Aquarell von Lotte Usadel (gen. Ulo), Heilbronn“.
Wieder einmal war unser Forschertrieb geweckt, denn die Malerin Lotte Usadel (1900-1981) war uns bis dato völlig unbekannt, und auch im Internet schien man abgesehen von einzelnen Erwähnungen kein vollständiges Lebensbild finden zu können. Wie bei einigen anderen Heilbronner Künstlern der Vergangenheit machten wir uns daher auf, den Lebensweg der Künstlerin zu erforschen.
Nach einigen Recherchen stießen wir auf Unterlagen zur Ausschreibung des Preußischen Staatspreises 1929, von dem sich die von den Künstlern eingereichten Angaben zu ihrer Biografie erhalten haben. Auch Lotte Usadel beteiligte sich an jener Ausschreibung und gab ihren bisherigen Werdegang preis. So war sie 1901 geboren, hatte unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Stettin und Berlin studiert und war während der Zeit der Inflation nach Stettin zurückgekehrt, wo sie ein Atelier im Museum beziehen konnte. Sie arbeitete als Wand- und Glasmalerin und galt als taletiert, so dass sich immer wieder Förderer fanden. 1927/28 tauchte sie zwar für einige Monate in die Pariser Boheme ein, kehrte dann aber nach Stettin zurück, wo sie sich verwurzelt sah.
Den weiteren Werdegang der Künstlerin bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs entnahmen wir Else Mögelins Bericht über den Stettiner Werkschuldirektor Gregor Rosenbauer (1890-1966) in Heft 53 der Baltischen Studien von 1976. In Stettin bildete sich nämlich aus dessen Schülern die intelektuelle Künstlergruppe „Das Neue Pommern“, der auch Lotte Usadel angehörte. Das Verbot der Gruppe zur NS-Zeit hat die künstlerische Karriere der Malerin nicht beeinträchtigt, da sie sich bereits einen eigenen Namen gemacht hatte und lukrative Aufträge erhielt. So arbeitete sie auch weitgehend unbeeindruckt vom inzwischen ausgebrochenen Zweiten Weltkrieg in ihrem Stettiner Atelier bis unmittelbar zum Näherrücken der Frontlinie im Frühjahr 1945. Die Flucht vor den russischen Truppen brachte Lotte Usadel dann jedoch den Verlust der geliebten Heimat und praktisch all ihrer Werke.
Über die zweite Lebenshälfte der Malerin erfuhren wir schließlich aus einem Newsletter von Ulrike Alber-Vorbeck, die sich an der Universität der Künste in Berlin bereits 2020 mit der pommerschen Künstlerin befasst hatte. Lotte Usadel floh aus Stettin nach Südwestdeutschland in die Nähe ihres Bruders, der Mediziner in Heidelberg war. Nach einigen Jahren auf dem Land bei Heidelberg zog sie schließlich nach Heilbronn. Zwar hatte sie ihren Ruf als namhafte Künstlerin und erhielt auch nach dem Krieg noch einige künstlerische Aufträge, aber der Kulturbetrieb in Süddeutschland, der nichts mit dem baltischen Geist ihrer Heimat oder der Weltbedeutung ihrer vorigen Stationen Berlin und Paris gemein hatte, erschien ihr nur provenziell. Sie beteiligte sich noch mit einigen Werken an den Ausstellungen des Heilbronner Künstlerbundes, aber trachtete nicht mehr danach, Werke zu verkaufen oder überhaupt von ihrer Kunst leben zu können. Interessenten ließ sie nur wissen, dass ihre Werke „unverkäuflich“ wären. Vielleicht eine Verlustangst, nach dem Untergang ihres gesamten Frühwerks? Vielleicht die Verachtung für Künstlerkollegen und Kunden, denen sie sich intelektuell überlegen vorkam? Für ihren Lebensunterhalt sorgte sie schließlich mit Schreibarbeiten für den Bruder. Sie starb ledig 1981 im städtischen Altersheim von Heilbronn.
Unser wahrscheinlich um 1960 entstandenes Aquarell mit der Szene bei Neckarmühlbach, unweit von Heilbronn am Neckar gelegen, ist somit eine der wenigen erhaltenen Arbeiten einer Ausnahmekünstlerin, die sich bereits in den 1920er Jahren einen Namen als Vertreterin einer modernen baltischen Kunstströmung machte, deren Frühwerk aber durch den Zweiten Weltkrieg praktisch vollständig verloren ist. Unser Bild gehört zu den wenigen Bildern, die sie noch in ihrer zweiten Lebenshälfte schuf und die heute ihr zerstreutes künstlerisches Vermächtnis bilden.