Mit tiefer Bestürzung haben wir soeben vom Tod des Künstlers und Kulturnetzwerkers Jürgen Scharsich (1960-2023) erfahren. Der Künstler, der bis 2009 in der Gegend um Heilbronn und danach in Bielefeld lebte, hat mit seiner unbändigen Energie die Subkulturszene in Heilbronn und im Kraichgau maßgeblich geprägt. Kaum ein Rave der 1990er und 2000er Jahre zwischen Heilbronn und Heidelberg, in dem er nicht mit seinem Improvisations-Projekt RADIO BAGDAD oder solo als ANT Inc. einen denkwürdigen Live-Act geboten hätte. Als Künstler hat er regelmäßig Grenzen ausgelotet und überschritten, als Kulturnetzwerker hat er vielen jungen Künstlern und Musikern den Weg zur künstlerischen Befreiung von allen Vorbildern gewiesen.
Wir sind glücklich und dankbar, Jürgen Scharsich vor Jahrzehnten selbst als langjährigen Weggefährten erlebt haben zu können, der unsere künstlerische Entwicklung mehr geprägt hat, als es jede akademische Kunstbetrachtung je könnte.
Deswegen möchte ich als Gründer dieser Kunstsammlung hier meine persönlichen Erinnerungen an gemeinsame Projekte mit Jürgen teilen.
Unsere Zusammenarbeit begann spätestens 1987, als wir mit unseren damaligen Bands „Razorblades“ und „Band of Confusion“ gemeinsam das „Osterknall-Festival“ im damaligen Heilbronner Jugendhaus in der Schillerstraße bestritten. Jürgen hatte damals bereits ein gewisses Renommee als Musiker im Heilbronner Raum und stand bereits mehrere Jahre mit diversen Bands auf Bühnen (u.a. beim Römersee-Festival 1986), während ich mit meiner Band gerade erst auf ein paar Konzerte zurückblicken konnte. Es war bald klar, dass man mehr gemeinsam machen wollte. Also gründeten wir daraufhin „Wahrheit in neuen Farben“ (WINF) als Plattform für experimentelle Projekte, die zunächst noch neben unseren Bands stattfanden, bald jedoch in den Vordergrund traten. Die früheren Bandkollegen beäugten unsere experimentellen Umtriebe zumeist mit Argwohn. WINF wurde jedoch zu einer Art subkulturellen Keimzelle in Heilbronn, nicht zuletzt, weil wir das Projekt als amtlich eingetragenen Verein führten und damit Zugriff auf Heilbronner Veranstaltungshallen und die Medientechnik der Kreisbildstelle hatten. Als Hauptquartier von WINF fungierte die Kellerkneipe „Little Woodstock“ in Heilbronn, die eine ehemalige Kegelbahn als Nebenraum hatte, der jedoch nur wenige Male zu Veranstaltungen genutzt werden konnte und ansonsten ungenutzt war. Dort ließ sich gut proben, und danach im Gastraum Bier trinken.
Mit WINF hat man sich, anfangs laienhaft und wahrscheinlich mehr schlecht als recht, an allen möglichen Kunst- und Veranstaltungsformen ausprobiert: mal ein Buch mit eigenen Beiträgen zusammengestellt, mal in größerer Besetzung (aber ohne Jürgen) in Stuttgart und Bamberg Bühnen bespielt, mal eine Ausstellung in Herrenberg veranstaltet, mal mit einer Anarcho-Performance eine Schweigedemo gegen den Golfkrieg 1991 gestört, und immer wieder Kulturprogramm im „Little Woodstock“ oder anderen Kulturkneipen der Region: im „Kaiser“ in Flinsbach, im „Ritter“ in Babstadt, im „Lichtspielhaus“ in Böckingen.
Als experimentelles Duo firmierten wir gemeinsam unter Namen wie „Requiem für tote Sterne“ und boten denkwürdige Auftritte wie bei einer unserer wöchentlichen Shows im „Kaiser“ in Flinsbach, wo wir nur mit blanken Kabeln in Effektgeräten musizierten, oder bei einer Kunsthandwerksmesse in Bockschaft, wo wieder einmal das Medienequipment der Kreisbildstelle zur Projektion von psychedelischen Fraktalmustern herhalten musste.
Bei Auftritten in größerer Besetzung wählten wir den Namen „Radio Bagdad“. Diesem Projekt schloss sich fest auch Drummer Alex von den Razorblades an, der dann in einer ausgebauten Scheune in Flinsbach, in der zuletzt die Razorblades geprobt hatten, für längere Zeit ein Domizil bot, in dem sich ungestört experimentelle Musik entwickeln ließ.
Von Flinsbach aus trat „Radio Bagdad“ zunächst noch als experimentelle Metal-/Noise-Band auf, u.a. bei einer denkwürdigen Fete auf der Eduardshöhe in Haßmersheim, wo die Lautstärke Bierflaschen zum Platzen brachte (was anwesende Gäste als Zeichen satanischer Besessenheit interpretierten), beim Betonbruch-Festival in Heilbronn-Horkheim und bei einem selbstveranstalteten Happening im Jugendhaus Rappenau 1994. Fernseher waren inzwischen Teil der Bühnenshow geworden. Darauf liefen wilde Mixtapes aus Hardcore-Porno, NS-Dokumentationen, Horrorfilmen und Papstmessen, die wir mit dem Equipment der Kreisbildstelle in tagelangen Schnittsessions analog zusammengeschnitten hatten. Die Grenzen des Geschmacks zielsicher gesucht, gefunden, überschritten. Dafür standen wir ein.
Radio Bagdad hatte unzählige Mitmusiker und Sessiongäste, zu viele um sich an alle zu erinnern. Zu den denkwürdigen längeren Mitglieder gehörte der geistig beeinträchtige Chris, der als Sänger und Sprecher der Gruppe fungierte, aber mit seinen Psychosen auch unfassbar nervig sein konnte. Ebenso denkwürdig der Gastauftritt von Mathias in Horkheim, der einen theatralischen Auftritt vor Jürgen und den anderen Mitmusikern auf der Bühne plante, sich dann aber schon nach wenigen Sekunden mit einem Vorschlaghammer selbst k.o. geschlagen hatte und einige Minuten der Show benommen und blutend auf der Bühne lag, während alle Musiker und das Publikum das für Teil seiner Performance hielten. Die Halle wurde übrigens danach nie mehr für Konzerte vermietet.
Radio Bagdad war dann auch als Live-Act für einen der ersten größeren Techno-Raves im Landkreis Heilbronn 1995 im Steinbruch-Verwaltungsgebäude in Obergimpern gebucht. Dieser Rave, organisiert von den Heilbronner „Reverends of Rhythm“ war der endgültige Startschuss für einige wilde Techno-Jahre in der Gegend um Heilbronn. Auch für Radio Bagdad markierte die mehrtägige Non-Stop-Performance mit vielen geplanten und noch viel mehr spontanen Session-Gästen die Abkehr vom experimentellen Rock und Noise und die Hinwendung zu technoidem, beat-orientierten Sound. Und aus den Überresten des Heilbronner WINF-Vereins, im Wesentlichen damals nur noch Jürgen und ich, wurde für einige Zeit noch der formelle Träger einiger Techno-Parties, deren Locations man durch den Vereinsstatus einfach und günstig mieten konnte.
Letztlich waren die Locations in Heilbronn von ihrer Anzahl her jedoch begrenzt. Mit der legalen Club-Szene, damals vor allem in der „Alten Gießerei“ in Heilbronn, wurden wir nicht recht warm. Die Live-Acts illegaler Raves passten einfach nicht in ein gewerbliches Gastro-Konzept der Nachtclubs. Jürgen versuchte zwar, einigen Heilbronner Clubs, darunter dem OM in der Paulinenstraße, technoide Deko oder Veranstaltungskozepte zu verkaufen, aber Engagements in der Club-Szene blieben Ausnahmen. Eine längere Verbindung gingen wir nur mit dem äußerst dubiosen „Basement Club“ in Heilbronn ein, der sich im Keller eines alten Gewerbekomplexes an der Ecke Wilhelm-/Südstraße in Heilbronn befand und sonntagmorgens die Afterhour für die „Gießerei“-Besucher bot. Jürgen besorgte die Deko, ich legte experimentellen Kram auf. Mit im Boot waren außerdem u.a. auch Techno-DJ SvenVision und die fetisch-erotische Domina und Ausdruckstänzerin Tally, deren Darbietungen nie jugendfrei waren. Die Anekdoten aus dem Basement-Club sind legendär und reichen vom oft als Druckmittel vorgezeigten, aber völlig verrosteten Revolver des Geschäftführers über ein Porno-Casting bei laufendem Clubbetrieb bis hin zum Diebstahl eines Plattenspielers während ein DJ auflegte.
Das Heilbronner Ordnungsamt war inzwischen argwöhnisch gegenüber Techno-Veranstaltungen geworden und es wurde schwierig, in Heilbronn und Umgebung Locations für angemeldete und dadurch halbwegs störungsfrei abzuhaltende Raves zu finden. Jürgen engagierte sich deswegen in Sinsheim bei der Gründung eines weiteren Vereins (Hammer Art), der auch Einrichtungen des Rhein-Neckar-Kreises für Techno-Parties nutzen wollte. In besonders guter Erinnerung blieb ein Rave anlässlich des Sinsheimer Stadtfests in früheren Industriegebäuden nahe der Innenstadt (heute Landratsamt), der beim dortigen Ordnungsamt guten Anklang fand, weil die Gebäude schallisoliert und die Raver mit sich selbst beschäftigt waren, während die Bierstände des Stadtfests und die lautstarken Biertrinker dort ständigen Lärmschutz-Ermahnungen der Behörden ausgesetzt waren.
Dort in Sinsheim trennten sich dann jedoch auch so langsam unsere Wege. Jürgen als der Mann, der keinen Schlaf zu brauchen schien und stunden- bis tagelange Live-Acts spielen konnte, gab sich vollends der subkulturellen Techno-Szene und ihren allwöchentlichen tage- und nächtelangen Raves hin. Ich fühlte mich dort aber zunehmend unwohl, zumal viele der „illegalen“ Raves wie die im Eppinger Himmelreich, auf dem Ottilienberg, auf Waldlichtungen, in Industrieruinen usw. nur wenig Raum für ruhige Momente ließen, die man an den Wochenenden vielleicht auch gerne genossen hätte. Die rauhe Männergesellschaft der Techno-Raves war außerdem auch weder so verlässlich noch so feingeistig, wie ich es mir gerne gewünscht hätte.
Nach ungefähr zehn Jahren war unsere Zusammenarbeit im Guten beendet. Der Heilbronner WINF-Verein, dem Jürgen und ich gemeinsam vorgestanden hatten, wurde formell aufgelöst. Ich habe den Namen WINF dann weiter für meine Projekte mit Freunden verwendet, aber trat nicht mehrals Live-Act bei Raves auf. Jürgen trat unter dem Namen „Radio Bagdad“ weiterhin solo auf, wählte dann aber zumeist das Solo-Pseudonym „ANT Inc.“ (Archaic Noise Terror).
Ich habe verschiedentlich mit einigen meiner Solo-Projekte noch Bezug auf Jürgens Ideen oder die gemeinsame Zeit als Radio Bagdad genommen. 2003 habe ich unter dem Pseudonym „Radio Bagdad Orchestra“ ein Album mit meist klassisch orchestrierten Tracks eingespielt. Mein Hardtechno-Track „27 Meter Warning“ von 2004 ist nach Jürgens Fantasie benannt, ein derart lautes Soundset aufzubauen, das im Umkreis von 27 Metern allen Besuchern körperliche Schmerzen und Fehlfunktionen verursachen würde. Zu einer Kooperation mit Jürgen kam es jedoch nicht mehr. Er war auch nicht der Mensch, der seine Musik selbst irgendwie aufgenommen oder dokumentiert hätte. Ich bat immer wieder mal um Soundfiles, die ich zu remixen und pubizieren anbot, aber bis auf eine längere Gitarren-Improvisation, die er nach Jahren mal schickte, kam nie etwas.
Seine Verbindung mit der hiesigen Techno-Szene, vor allem mit den Heilbronner „Reverends of Rhythm“ und mit „Basic System Error“ (BSE), hielt noch für etwa weitere zehn Jahre an, bevor dann Jürgens Haftstrafe und sein Umzug nach Bielefeld 2009 eine Zäsur einleiteten, durch die wir uns auch völlig aus den Augen verloren. Wir haben uns danach nur noch zwei Mal im Abstand von je 5-6 Jahren gesehen. Man hatte zuletzt weltanschaulich völlig unterschiedliche Ansichten, hat sich aber respektiert und gemocht.
Die gemeinsame Zeit war wild und vermutlich bin ich nicht der Einzige, der behaupten kann, dass sein Leben ohne den Kontakt zu Jürgen Scharsich in ganz anderen Bahnen verlaufen wäre. Und wisst ihr was: ich möchte keine Sekunde davon missen!
Möge Jürgens Geist in den Schoß des allmächtigen Chaos zurückkehren, als Teil dessen Urgewalt er sich immer verstand!
In unserer Sammlung befinden sich mehrere Werke des Künstlers aus den 1980er und 1990er Jahren, als sich Jürgen Scharsich neben seinen damaligen Bandprojekten auch intensiv mit Malerei auseinandersetzte. Auf unserer Website findet ihr außerdem biografische Notizen sowie Abbildungen weiterer noch nachweisbarer Werke.