Jürgen „Szandor Vincent“ Scharsich (1960-2023) war bildender Künstler und Musiker aus der Gegend um Heilbronn. Er spielte ab etwa 1980 bei verschiedenen Bluesrock-Bands im Heilbronner Raum, bevor er sich stärker der bildenden Kunst zuwandte und ab den späten 1980ern zahlreiche Gemälde und Objekte schuf. Ab Mitte der 1990er wurde er zu einem der Hauptprotagonisten der Freetekno-Szene in Süddeutschland, hat sich dabei aber völlig verausgabt. Nach einigen Jahren Auszeit und Umzug nach Bielefeld entstanden ab 2009 nochmals vereinzelt Gemälde.
Biographie
Jürgen Scharsich wurde am 17. Juli 1960 in Heilbronn geboren. Er malte und musizierte seit früher Jugend aus eigenem Antrieb. Vor größerem Publikum trat er erstmals um 1980 in Heilbronn als Sänger und Gitarrist der Band Rhomborak in Erscheinung, die im Vorprogramm der Polit-Rocker Checkpoint Charlie zu sehen waren und von Krautrock, Okkultismus und Jimi Hendrix inspirierten, psychedelischen Bluesrock spielte. Scharsich war von jeher experimentierfreudig und umtriebig und daher häufig an mehreren Projekten zur gleichen Zeit beteiligt. Er besorgte auch die Organisation der Konzerte und gestaltete die Plakate. Nach der Auflösung von Rhomborak gründete er Mitte der 1980er Jahre das Trio Band of Confusion, das stilistisch ebenfalls psychedelischen Bluesrock darbot und im Rhein/Neckar-Raum gewisse Bekanntheit erreichte. Unter anderem spielte die Gruppe 1986 beim Römersee Open Air in Bad Rappenau. Nachdem sich auch dieses Trio aufgelöst hatte, gründete er kurz nach 1990 die Formation Radio Bagdad, die zunächst noch in klassischem Band-Line-Up experimentelle improvisierte Musik spielte.
Scharsich war stets sehr eigen, hasste die Wiederholung und liebte die spontane und völlig freie, aus dem tiefsten Inneren kommende Improvisation. In herkömmlichen Bands mit festem Repertoire wurde der raumnehmende Improvisator nicht mehr glücklich. Sein Engagement bei einer Metalband in Ludwigsburg blieb eine kurze Episode. Dem Underground stets mehr zugeneigt als dem Mainstream, experimentierte Scharsich stets mit den unterschiedlichsten Kunstformen und war vor allem ein Netzwerker, der in seinen Projekten unterschiedlichste subkulturelle Künstler zusammenbrachte. Mit nie enden wollender kreativer Energie hat er viele junge Künstler in ihrer künstlerischen Befreiung von Vorbildern geprägt oder gefördert.
Neben Musik entstanden in den späten 1980er Jahren Bilder, die oft apokalyptische Visionen zum Gegenstand hatten. Später wandte sich Scharsich dann verstärkt Objektkunst unter Verwendung von Holz, Knochen, Stahl, Filz und Blei sowie multimedialen Installationen zu. Oft griff er dabei Themen auf, die gerne verschwiegen und vergessen werden: der Tod im Allgemeinen, die Todesstrafe, die nur mangelhaft bewältigte NS-Vergangenheit, der sexuelle Missbrauch in der Kirche. Ab etwa 1990 nannte sich der Künstler Szandor Vincent Scharsich, in Anlehnung an Vincent van Gogh und den Satanisten Anton Szandor LaVey.
Er war 1989 Gründungsmitglied des Heilbronner Künstlerkollektivs WINF, dem er bis zu dessen Auflösung gemeinsam mit seinem Radio-Bagdad-Bandkollegen M. Auftau auch vorstand. Viele Projekte in diesem Umfeld liefen parallel. Improvisation bei den Auftritten war Programm. Exemplarisch für jene Jahre ist Scharsichs Action-Painting im Heilbronner Lichtspielhaus, bei dem er sich von improvisierter Live-Musik der Gruppe Großwaldstadt, einem Duo aus dem WINF-Umkreis, begleiten ließ und theatralisch Wände bemalte, bevor er genüsslich mit der Axt ein Sofa zerhackte, aus dem (Theater-)Blut hervorschoss. WINF gestaltete u.a. die mehrtägige Einweihung des Heilbronner Clubs Little Woodstock mit Konzerten, Performances und Ausstellung. Der Club war danach für längere Zeit Vereinslokal und Proberaum der Gruppe. Das Kollektiv bestritt in wechselnden Besetzungen mit und ohne Scharsich diverse Auftritte und Veranstaltungen außer im Heilbronner Umland auch in Stuttgart und Bamberg. Viele dieser Projekte waren ausgesprochen offener Natur.
1991 schloss sich Scharsich der Unterländer Künstlergruppe Pilum um den Objektkünstler Darko Gol (* 1954) und den Bildhauer Ralph Nieling (* 1960) an, mit denen er 1992 an Gruppenausstellungen im Stadttheater Heilbronn und im Schloss Liebenstein in Neckarwestheim beteiligt war. Bei der Ausstellung in Neckarwestheim zierte sein 20 Meter langes „Bluttuch“ mit der Silhouette von lebensgroßen stürzenden Figuren weithin sichtbar den Bergfried von Schloss Liebenstein, der im Inneren mit Bildern und Objekten von Scharsich eingerichtet war. Dem archaischen Charakter des Turmes entsprechend schuf Scharsich dafür hauptsächlich Objekte aus verwittertem Holz, alten landwirtschaftlichen Geräten, rostigem Eisen sowie menschlichen und tierischen Knochen.
Im November 1993 schloss sich eine große Gruppenperformance der Pilum-Mitglieder unter dem Projektnamen Akutverband in der Breitschwerdt-Halle in Heilbronn an.
Seine umfangreichste Einzelausstellung hatte Scharsich unter dem Motto „Denaturation“ im Herbst 1993 in Bad Rappenau. Als Kulisse diente ein nicht mehr genutzter und von Scharsich über Wochen mühevoll zum interaktiven Environment umgestalteter ehemaliger Stall eines Aussiedlerhofes bei Bad Rappenau, unweit des Römersees. Ein Teil des Stalls verblieb im Originalzustand, andere Teile wurden gereinigt, frisch gestrichen, teils mit Steinen oder Kohle ausgelegt, und mit unzähligen Installationen, Leucht- und Klangobjekten gefüllt. Zur Vernissage bot Scharsich Performances, einen Auftritt der Heidelberger Gruppe Zornzirkel, lebende Installationen und vieles mehr.
Er war Mitglied im Bundesverband Bildender Künstler und beteiligte sich an Ausstellungen der Heidelberger Werkstattgalerie, u.a. mit seinem Bild „Die Freunde des kalten Fleisches“ bei einer Ausstellung im früheren Gestapo-Gefängnis in Bautzen.
Ab Mitte der 1990er Jahre konzentrierte sich Jürgen Schrsich dann primär auf seine musikalischen Projekte, für die er jedoch auch weiterhin grafische Entwürfe, Bühnendekorationen, Video-Installationen usw. schuf.
Das Konzept seiner Band Radio Bagdad hatte sich bis in die Mitte der 1990er Jahre nämlich auch immer mehr radikalisiert. Die Besetzung wechselte häufig, statt eines Schlagzeugs kamen Computer und Stahlschrott zum Einsatz, ein psychisch beeinträchtigter Fan der Gruppe wurde kurzerhand zum “Sänger” erklärt und brüllte seine psychotischen Befindlichkeiten ins Mikrofon, flackernde TV-Monitore mit Bildern von Krieg, Sex und Papst wurden zum festen Teil der Bühnenshows. Scharsich tauschte die Gitarre häufig gegen die von ihm selbst gebaute Todesfiedel – ein Ofenrohr, das mit Saiten und Tonabnehmern ausgerüstet war. Die Auftritte der Gruppe wurden mehr und mehr zum reinen Experiment, bei der die lärmige Musik oft nur noch Nebensache war.
Eines seiner Seitenprojekte unter dem Namen Requiem für tote Sterne, ein Duo mit dem Bandkollegen Auftau, verzichtete oft sogar vollends auf konventionelle Instrumente. So bestritt man ein Konzert in Flinsbach nur noch mit blanken Kabeln, die in Effektgeräten steckten. Einige Auftritte absolvierten Requiem für tote Sterne auch mit komplett digital erstellter Playback-Computermusik, zu der Live-Videoprojektionen geboten wurden.
Im Verlauf der 1990er Jahre veränderte sich die Jugendkultur und mit ihr die Veranstaltungs-Szene, innerhalb der Gruppen wie Radio Bagdad oder Künstlerkollektive wie WINF in Erscheinung traten. Aus vielen regionalen Underground-Festivals, z.B. der an wechselnden Orten in Kraichgau/Odenwald abgehaltenen Neonfete, wurden Techno-Partyreihen. Spätestens der legendäre mehrtägige Rave der Heilbronner Reverends of Rhythm in Obergimpern im Frühjahr 1995, bei dem auch Radio Bagdad als mehrtägiger Nonstop-Liveact beteiligt war, markiert den Wandel von Scharsichs Projekt Radio Bagdad hin zum Techno-Liveact. Das Projekt schmolz in der Folgezeit zum Duo mit wechselnden Gästen, u. a. Musiker der inzwischen in Berlin residierenden Electro-Band Krankheit der Jugend.
Scharsich gründete Mitte der 1990er in Sinsheim das Kollektiv HammerArt und führte mit diesem sowie mit den Heilbronner Aktivisten von Reverends of Rhythm (ROR) als Organisator und/oder Live-Act zahlreiche Freetekno-Events durch, darunter die langjährige Himmelreich-Reihe.
Er trat nun mit Computern und Effektgeräten als Solomusiker auf und wurde unter dem Namen A.N.T. Inc. (Archaic Noise Terror Inc.) zu einem regelmäßigen Live-Act der süddeutschen Freetekno-Szene. Multimediale Auftritte mit interaktiven Video-Projektionen und ausgefallener Dekoration führten in den Schwarzwald oder ins Elsass, u. a. zum SouthTek. Scharsich war auch Stammgast der als Tanzort betitelten Veranstaltungsreihe des Berliner DJs LSK und er gestaltete die Inneneinrichtung bzw. Dekoration mehrerer Discotheken und Clubs.
Jürgen Scharsich war verheiratet und lebte mit seiner Frau Eva ab den 1980ern zunächst in Kirchardt, dann in Epfenbach, später in Helmstadt-Bargen. Der Ehe entstammten zwei Söhne. Die Verbindung war jedoch von keiner Dauer und zerbrach, als die Söhne das Erwachsenenalter erreichten. Der Musiker bezog danach eine Wohnung in Bad Rappenau-Grombach und ließ einen Großteil seines künstlerischen Werks hinter sich zurück.
Nach etlichen Jahren in der Techno-Szene sowie unruhigen privaten Zeiten verschwand der Künstler in den 2000er Jahren für einige Zeit völlig von der Bildfläche. Psychedelischen Erfahrungen nie abgeneigt, hatte ihn das Leben auf der Überholspur der Tekno-Parties zum Dauerkonsumenten von Aufputschmitteln gemacht. Ein falscher Freund und ein verpatzter Drogendeal taten ihr Übriges, so dass Scharsich den Weg in eine Haftstrafe und danach in eine Langzeittherapie antreten musste. Nachdem bereits ein Dachstuhlbrand und ein Hochwasser an seinem früheren Wohnort Epfenbach in den 1990ern einen Teil von seinen frühen Arbeiten zerstört hatte, gingen während der Haft- und Therapiezeit in den Jahren in den späten 2000ern etliche weitere Werke durch unsachgemäße Lagerung in Grombach und Bargen verloren. Dazu zählen u.a. die Installation “Lediglich ein Objekt” sowie auch die Todesfiedel.
In den späten 2000ern zog Scharsich nach Bielefeld, wo er gelegentlich wieder als Instrumentalist und Klangsucher auftrat und wo auch noch einige Werke entstanden sind. Mit einer neuen jungen Partnerin hatte er nochmals einen späten dritten Sohn, dem er viel seiner Zeit widmete.
Jürgen Scharsich starb am 28. Oktober 2023 in seiner Wohnung in Bad Oeynhausen. Seine Urne wurde im Dezember 2023 in der Ostsee beigesetzt.
Werke von Szandor Vincent Scharsich in der Kunstsammlung Schmelzle
Scharsichs Werke in der Kunstsammlung Schmelzle sind allesamt Werke aus seiner produktivsten künstlerischen Phase, die von den späten 1980ern bis in die Mitte der 1990er Jahre reicht. Mit dem aus einer alten Stalltüre angefertigten Objekt „Das allzuleichte Vergessen“ (Inv. Nr. 2017.007) sowie dem unter Verwendung von Blei und Filz sowie einer Tischplatte gefertigten Papstbild „Ihr Kinderlein kommet“ (Inv. Nr. 2019.047) verfügen wir über zwei seiner Hauptwerke, die bei diversen Ausstellungen zu sehen waren. Mit dem noch aus den 1980ern stammenden Gemälde OT III (Vision XV 1) sowie vier charakteristischen Arbeiten der frühen 1990er in Acryl auf Hartfaser ist außerdem auch der rein malerische Aspekt seines Werkes jener Jahre gut abgedeckt. Schließlich ist die Original-Collage für ein Plakat von 1994 ein Beispiel für Gebrauchskunst, mit der der Künstler in eigener Sache warb, und zudem ein Zeitzeugnis für eine der letzten Veranstaltungen Scharsichs, bevor er sich ab 1995 vorerst vollends der Techno-Szene zuwandte.
OT III (Vision XV 1), 70 x 57 cm, Acryl auf Hartfaser, ca. 1989, unsere Inv. Nr. 2018.002
Die 120 Tage von Sodom, 42 x 58 cm, Acryl auf Hartfaser, bez. u. dat. 1991, unsere Inv. Nr. 0000.025
Der müde Tod I & II, jeweils 80 x 40 cm, Acryl auf Hartfaser, teilweise mit eingearbeitetem Sackleinen und Knochen, bez. u. dat 1991, unsere Inv. Nr. 2017.004 und 2017.005
Das allzuleichte Vergessen, ca. 70 x 100 cm, Holz-Stalltüre mit diversen Applikationen (Stacheldraht, Fotocollage, Messer, Zahn, Schneckenhaus), 1990, unsere Inv. Nr. 2017.007
Ohne Titel, 80 x 60 cm, Acryl auf Faserplatte, ca. 1991/92, unsere Inv. Nr. 2018.005
Ihr Kinderlein kommet, 110 x 80 cm, Holzplatte mit Applikationen, 1992, unsere Inv. Nr. 2019.047
Plakatentwurf “Radio Bagdad”, 42 x 30 cm, Collage auf Karton, 1994, Inv. Nr. 0000.075