Porträts einer deutschen Familie

Im September 2022 konnten wir eine Folge von vier zusammenhängenden Gemälden aus Privatbesitz erwerben (Inv. Nr. 2022.052, 2022.053, 2022.054 und 2022.055). Sie zeigen drei Generationen einer Familie (die namentlich ungenant bleiben möchte) aus der Zeit von etwa 1910 bis in die 1940er Jahre. Die Bilder wurden vielleicht in den 1960er oder 1970er Jahren vom selben Maler nach alten Fotos gemalt.

Von ihrer künstlerischen Qualität her sind die Bilder sicher nichts Besonderes. Gleichwohl hat es der unbekannte Maler, der die Bilder jeweils nur mit dem Monogramm “H.M.” signierte, verstanden, auch die Kleidung und den Gestus der auf den Fotovorlagen dargestellten Personen wiederzugeben und den wahrscheinlich rein schwarz/weißen Vorlagen auch ein realistisches Kolorit aufzulegen.

Neben den Informationen, die wir von den Vorbesitzern über die dargestellten Personen erhielten, sagen auch die Gemälde etwas über die Lebensumstände der Porträtierten aus.

Das erste Bild der Reihe (Inv. Nr. 2022.052) zeigt eine Familie mit Kind. Die Eltern sitzen in dunkler Sonntagskleidung steif nebeneinander, zwischen ihnen steht ein Kind mit Kleid und Hut. Das als Vorlage des Gemäldes dienende Foto dürfte höchstwahrscheinlich in einem Fotoatelier entstanden sein. Es zeigt der Überlieferung nach eine deutsche Familie, die damals in Ungarn an der Grenze zum späteren Jugoslawien lebte. Der Vater trägt eine schwarze Anzugjacke über weißem Hemd, eine schwarze Hose und glänzende schwarze Reitstiefel. Die Mutter trägt ein schwarzes Kleid, schwarze Schallenschuhe und eine schwarze Trachtenhaube. Um ihren Hals hat sie eine Kette mit einem Kreuz. Das Kind trägt ein helles grob kariertes Kleidchen mit Rüschenkragen und einen sommerlichen Hut. Uns wurde gesagt, dass das Kind, ein Sohn, im Jahr 1909 geboren wurde. Auf dem Bild ist der Knabe etwa 2 oder 3 Jahre alt, so dass die Fotovorlage vielleicht 1911 oder 1912 entstanden ist. Der Vater fiel bald darauf im Ersten Weltkrieg. Die Mutter hat darauf wieder geheiratet und kehrte mit dem Kind nach Deutschland zurück.

Das zweite Bild der Reihe (Inv. Nr. 2022.053) zeigt einen grimmig blickenden Knaben, der auf einem Stuhl vor einem Pflanzenhintergrund sitzt und Ziehharmonika spielt. Da wir (wie bei allen vier Bildern) die Fotovorlagen nicht im Original kennen, lässt sich nicht sagen, ob es sich bei der Vorlage zu diesem Bild tatsächlich um einen in der Natur entstandenen Schnappschuss handelt oder nicht vielmehr um eine gestellte Szene vor einem künstlichen Hintergrund im Studio. Der Junge trägt graue Kleidung und schwarze Schnürstiefel mit einem hellen gamaschenartigen Schaft.

Der Überlieferung nach soll es sich zwar um den 1937 geborenen Sohn des im ersten Bild gezeigten 1909 geborenen Knaben handeln. Die Fotovorlage des Bildes, das einen vielleicht 5-jährigen Knaben zeigt, müsste demnach um 1942 entstanden sein. Speziell die Schuhe lassen uns an dieser Identifizierung jedoch zweifeln, da Gamaschen bereits in den 1920er Jahren aus der Mode kamen und solche Schuhe 1942 undenkbar wären. Folglich handelt es sich beim dargestellten Kind eher nochmals um den 1909 geborenen Knaben aus dem ersten Bild. Aber egal, ob es nun nochmals der Knabe von oben oder bereits dessen Sohn ist: was ihn zu seinem grimmigen Gesichtsausdruck verleitet hat und ob er gerne Harmonika gespielt hat, wissen wir leider nicht.

Das dritte Bild der Serie (Inv. Nr. 2022.054) zeigt schließlich den Knaben aus dem ersten Bild inzwischen als stattlichen Mann im Alter von knapp 40 Jahren in Anzug und Krawatte vor neutralem Hintergrund. Mit festem Blick schaut uns vom Gemälde ein Mann entgegen, der in der Blüte seiner Jahre steht. Gestus, Hemd und Krawatte sowie gepflegte Frisur deuten darauf hin, dass er einen gewissen Wohlstand erreicht hat.

Die Fotovorlage für dieses Bild müsste gemäß des für dieses Bild tradiert überlieferten Alters des Dargestellten in der zweiten Hälfte der 1940er Jahren entstanden sein. Die zurückhaltende Farbigkeit des Gemäldes spricht außerdem auch für eine nach wie vor schwarz/weiße Fotovorlage.

Das vierte und letzte Bild aus der Serie (Inv. Nr. 2022.055) zeigt einen blassen kurzhaarigen Knaben in braunem grob karierten Jacket vor neutralem Hintergrund. Bei diesem Jungen handelt es sich um den 1937 geborenen Sohn des Mannes aus dem vorigen Bild, hier im Alter von etwa 10 Jahren. Die Fotovorlage des Gemäldes ist folglich in der unmittelbaren Nachkriegszeit um das Jahr 1947 entstanden, vielleicht gleichzeitig mit dem Porträt seines Vaters. Die etwas unförmig wirkende Jacke des Jungen könnte in den Mangeljahren nach dem Krieg aus einem alten Männerjacket hergestellt worden sein.

Wie eingangs bereits erwähnt, sind alle Gemälde der Serie bis auf ihre Größenunterschiede gleichartig auf Faserplatte gemalt, gleichartig gerahmt und gleichartig mit dem Monogramm “H.M.” signiert. Zur Auflösung des Monogramms gibt es keine konkreten Spuren. Es handelt sich jedenfalls nicht um die Initialen von jemandem aus der Familie. Gleichwohl waren zwei Generationen der Familie im Raum Ludwigsburg auch als (Fassaden-)Maler tätig. Es wäre also durchaus denkbar, dass man für die Umsetzung der Gemälde einen befreundeten Maler aus dem Kollegen- oder Bekanntenkreis beauftragt hat, der vielleicht auch aus dem Raum Ludwigsburg stammte, die Fotovorlagen erhielt und danach dann in kurzen Abständen die Gemälde ausführte.

Zur Datierung der Bilder können wir außer den biografischen Daten der Dargestellten Personen nur den Duktus der Malerei und des Malermonogramms heranziehen. Da sie gleichartig ausgeführt sind, können sie frühestens nach Entstehen der letzten datierbaren Fotovorlage entstanden sein, also frühestens ab etwa 1947. Die Malerei mit Acrylfarben und der Monogrammduktus weisen allerdings auf einen etwas späteren Zeitraum, vielleicht in die 1960er oder 1970er Jahre. In jene wirtschaftlich prosperierende Zeit würde auch das nötige Statusbewusstsein passen, das zum Wunsch führte, der Nachwelt nicht nur auf Fotos, sondern auch auf Gemälden erhalten zu bleiben. Mit der Beauftragung von mehreren Gemälden sollte vielleicht sogar der Grundstock für eine spätere Ahnengalerie gelegt werden.

Vielleicht war man sich bei der Erstellung der Gemälde auch sicher, dass innerhalb der Familie stets das Wissen um die dargestellten Personen und um die Identität des Malers “H.M.” weitergegeben würde, weil bis auf das Malermonogramm auf keinem der Bilder auch nur eine weitere Beschriftung zu finden ist. Aber wieder einmal hat sich die Weisheit bewahrheitet: “Wer schreibt, der bleibt”. Und da hier nun eben nichts geschrieben wurde, ging das Wissen um die Bedeutung der Bilder bereits nach ungefähr 50 oder 60 Jahren fast vollständig verloren.

Zwar ist unsere Sammlung darauf ausgelegt, Bilder zu bewahren, zu erforschen und so auch für kommende Generationen zu erschließen, aber da auch wir nichts zur Identität der dargestellten Personen veröffentlichen, fördern wir ebenfalls in gewissem Maß das Verblassen der Erinnerung. So werden die vier Bilder in natura und durch ihre Veröffentlichung und Verbreitung im Internet für künftige Betrachter stets nur als „Porträts einer deutschen Familie“ gelten.