Ihr Kinderlein kommet (Szandor Vincent Scharsich, 1992)

Inv. Nr. 2019.047

Beschreibung

110 x 80 cm, hölzerne Tischplatte, mit Sackleinen und Dachpappe überzogen, mit Blei gerahmt, mit Applikationen aus Blei, Metallschrott, Messing, Knochen, Holz und Filz.

Nicht signiert oder datiert, entstanden 1992.

Jürgen „Szandor Vincent“ Scharsich (1960-2023) hatte seine kreativste Phase um 1990, als der Konzeptkünstler und Musiker sich an zahlreichen Ausstellungen und Projekten beteiligte. Um diese Zeit entstanden viele großformatige Objekte als Materialmix aus Holz, Metall, Knochen und Stoff, in denen Scharsich die unbequemen und totgeschwiegenen Themen der damaligen Zeit aufgriff. Waren es in den ungefähr zeitgleich entstanden Objekten wie dem ebenfalls in unserer Sammlung befindlichen Objekt mit dem Titel „Das allzuleichte Vergessen“ (Inv. Nr. 2017.007) oder in dem verschollenen Blei-Filz-Metall-Bild „Die Freunde des kalten Fleisches“ noch die unbewältigten Greuel der NS-Zeit, so nimmt Scharsich mit dem Werk „Ihr Kinderlein kommet“ die dunkle Seite der Kirche ins Visier: Ein aus Blei und Schrott gefertigter, durch Tiara und Bischofsstab als Papst zu erkennender Kleriker steht auf einem Berg aus echten Knochen und grätenförmigen Metallobjekten und führt sich eine Messingfigur des Gekreuzigten an die Leistengegend.

Der Gestus des Dargestellten, die verwendeten Materialien sowie der ironisch gewählte Titel des Bildes „Ihr Kinderlein kommet“ lassen vielfältige Assoziationen zu. Naheliegend ist freilich ein Bezug auf den über Jahrzehnte verschwiegenen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Geistliche, der wenn überhaupt dann nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert wurde, als Scharsich das Bild um 1990 schuf. Lockt der Papst da etwa Kinder mit der funkelnden Jesusfigur an sein Gemächt? Oder missbraucht er etwa selbst den Gekreuzigten zur puren Triebbefriedigung? Weitere Interpretationen wie eine Allegorie auf das verkrustete und eingerostete Papsttum, auf den Missbrauch des Glaubens durch die Institutionen, oder auf die lebende oder abgetriebene Nachkommenschaft der eigentlich dem Zölibat verpflichteten Geistlichen tun sich bei weiterer Betrachtung des Bildes auf. Scharsich bleibt vage und bietet weder Erklärung noch Lösung, regt den Betrachter aber durch die schiere Größe und das Gewicht des Bildes (20 kg) sowie durch die plakative Ästhetik sicher zum Nachdenken an.

Das 1992 entstandene Objekt war u.a. noch im Entstehungsjahr bei der Ausstellung der Künstlergruppe PILUM auf Schloss Liebenstein in Neckarwestheim ausgestellt. Das nachfolgende Foto zeigt das Bild 1992 kurz nach seiner Entstehung im Bergfried von Schloss Liebenstein.

Das Bild hat durch jahrelange unsachgemäße Lagerung sehr gelitten. Die Dachpappe wurde spröde und ein Teil der aufgeklebten Filzwolken ist beschädigt worden. Wir haben das Bild bereits 2018 erworben und lange überlegt, es zu restaurieren. Da der Künstler aber mit Absicht organische Materialien für seine Objekte jener Zeit verwendet hat, begreifen wir inzwischen den Verfall des Objekts als Teil seiner ursprünglichen Intention und haben auf eine Restaurierung verzichtet. Vielleicht werden wir die abgelösten Filzwolken zu einem späteren zeitpunkt durch neue Applikationen aus ähnlichem Filz ersetzen.

 

<< Übersicht